Stellen Sie sich vor, Sie gehen auf einen Wochenmarkt. Zehn Bäcker verkaufen Brot. Der günstigste verlangt 1 €, der teuerste 5 €. Doch am Ende bekommt jeder denselben Preis: 5 €. Absurde Vorstellung? Willkommen im Strommarkt. Willkommen im Merit-Order-System.
Das Merit-Order-Prinzip ist die Grundlage unseres Strommarktes. Es regelt, in welcher Reihenfolge Kraftwerke Strom liefern dürfen und wer am Ende den Preis bestimmt. Der Strompreis richtet sich dabei nicht nach dem Durchschnitt, sondern nach dem teuersten Kraftwerk, das zur Deckung der Nachfrage benötigt wird: dem sogenannten Grenzkraftwerk.
Günstige Anlagen wie Windräder und Solaranlagen kommen zuerst zum Zug, weil sie fast keine Brennstoffkosten haben. Danach folgen Kohle-, Gas- und andere Kraftwerke. Das teuerste Kraftwerk, das noch gebraucht wird, setzt den Preis für alle anderen. Das bedeutet: Alle verkaufen ihren Strom zum gleichen – hohen – Preis, auch wenn ihre Produktionskosten viel niedriger sind. Die Differenz nennt man Merit-Order-Rente. Klingt wie ein cleverer Marktmechanismus? Nur auf den ersten Blick.
In der Praxis sind es vor allem fossile Kraftwerke, die sich diesen Mechanismus zunutze machen. Gaskraftwerke spielen häufig die Rolle des Grenzkraftwerks. Und je höher die Gaspreise steigen, desto höher klettern auch die Strompreise. Doch der Clou: Auch billig produzierter Strom wird zum hohen Gaspreis verkauft.
Und es wird noch dreister:
Einige Betreiber setzen auf strategische Abschaltungen, um künstlich Verknappung zu erzeugen und so die Preise weiter in die Höhe zu treiben.
Alle Kraftwerke erhalten den Einheitspreis, egal wie niedrig ihre Kosten sind. Dadurch profitieren auch Kohle- oder Atomanlagen.
Steigende Brennstoffpreise können eins zu eins an den Markt durchgereicht werden, was fossile Gewinne auf Kosten von Verbraucherinnen und Verbrauchern in die Höhe treibt.
Das aktuelle System belohnt nicht die sauberste oder effizienteste Technologie, sondern die teuerste, die gerade noch benötigt wird.
Ein zentrales Ziel der Energiewende ist es, den Anteil erneuerbarer Energien am Strommix deutlich zu erhöhen und dabei zugleich die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Doch genau hier steht das Merit-Order-System im Widerspruch zu den Anforderungen eines modernen Energiemarktes. Zwar senken Wind- und Solaranlagen durch ihre niedrigen Grenzkosten den Börsenpreis, indem sie teurere Kraftwerke aus dem Markt drängen. Paradoxerweise profitieren sie jedoch gerade in Phasen hoher Strompreise ebenfalls überproportional – was zu stark schwankenden Erlösen führt.
Diese Volatilität erschwert die langfristige Planung und Finanzierung neuer Anlagen, da ein Strommarkt mit unvorhersehbaren Preisbewegungen für Investoren wenig kalkulierbar ist. Projekte werden dadurch verzögert oder gar nicht erst realisiert – ein erheblicher Rückschlag für den angestrebten zügigen Ausbau der erneuerbaren Energien.
Gleichzeitig wirkt sich das Merit-Order-Prinzip auch negativ auf die Endkundenpreise aus: Obwohl der Strom oftmals günstig produziert wurde, zahlen Verbraucherinnen und Verbraucher einen Preis, der sich am teuersten benötigten Kraftwerk orientiert. Das führt zu unnötig hohen Stromkosten – insbesondere in Zeiten mit stark gestiegener Nachfrage oder eingeschränkter Verfügbarkeit erneuerbarer Energie.
Das zentrale Versprechen der Energiewende – sauberer, bezahlbarer Strom für alle – wird damit durch ein überholtes Marktdesign unterlaufen.
Die politische Reaktion auf die stark gestiegenen Strompreise bestand in vielen Fällen in der Einführung von Subventionen und Strompreisbremsen. Diese Maßnahmen zielten darauf ab, die kurzfristige finanzielle Belastung für Haushalte und Unternehmen abzufedern. Doch so hilfreich sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, sie lösen das grundlegende Problem nicht. Statt struktureller Reformen wird ein veraltetes und ineffizientes Marktsystem künstlich am Leben gehalten.
Hinzu kommt, dass die für diese Entlastungen benötigten Mittel aus öffentlichen Haushalten stammen, finanziert durch Steuergelder, also letztlich von den Bürgerinnen und Bürgern selbst.
Statt also teure Symptome zu behandeln, wäre eine umfassende Strukturreform des Strommarkts nicht nur nachhaltiger, sondern auch auf lange Sicht deutlich kosteneffizienter.
Um die Energiewende effektiv voranzubringen, reicht es nicht aus, nur die bestehenden Marktmechanismen zu verwalten. Es braucht vielmehr eine gezielte Weiterentwicklung des Merit-Order-Systems, das heutigen Anforderungen an ein dezentrales, zunehmend auf erneuerbare Energien ausgerichtetes Stromsystem gerecht wird. Dabei stehen mehrere Reformoptionen zur Verfügung, die sowohl die Preisbildung als auch die Anreizstrukturen grundlegend verbessern können.
Ein zentraler Ansatzpunkt ist die Einführung von Kapazitätsmärkten, in denen nicht nur die produzierte Energie, sondern auch die Bereitstellung von Flexibilität vergütet wird. So ließen sich großskalige Stromspeicher fördern, die erneuerbare Überschüsse zwischenspeichern und bei hoher Nachfrage wieder einspeisen können.
Auch die Preisbildung selbst muss reformiert werden. Mit Konzepten wie Locational Marginal Pricing lassen sich regionale Unterschiede in der Netzbelastung und in den Produktionskosten abbilden. Dadurch entstehen präzisere Investitionssignale, insbesondere dort, wo das Netz verstärkt oder erneuerbare Kapazitäten ausgebaut werden müssen. Ergänzend dazu kann ein Scarcity Pricing, also die gezielte Preisbildung bei Knappheiten, helfen, Reservekapazitäten effizienter zu aktivieren und eine vorausschauende Kapazitätsplanung zu unterstützen.
Auf der Verbraucherseite können zeitlich variable Stromtarife Anreize schaffen, Energie dann zu nutzen, wenn sie im Überfluss vorhanden und entsprechend günstig ist. In Kombination mit verkürzten Handelszeiträumen, wie sie durch EU-Marktreformen bereits angestoßen wurden, wird der Markt insgesamt flexibler und kann kurzfristiger auf Schwankungen reagieren.
Regulatorisch lässt sich das Marktdesign zudem durch eine konsequentere CO₂-Bepreisung weiterentwickeln. Indem die externen Kosten fossiler Energieträger vollständig in den Strompreis einfließen, verbessert sich die Wettbewerbsfähigkeit erneuerbarer Technologien erheblich. Ergänzend können sogenannte Contracts-for-Difference (CfDs) dafür sorgen, dass Betreiber erneuerbarer Anlagen unabhängig vom kurzfristigen Börsenpreis stabile Einnahmen erzielen. Gleichzeitig profitieren auch Verbraucherinnen und Verbraucher durch langfristig verlässlichere Preise.
Nicht zuletzt ist auch die europäische Marktintegration ein zentraler Hebel. Durch eine stärkere Kopplung nationaler Strommärkte und den Austausch von Orderbüchern in der letzten Handelsstunde lassen sich Preisschwankungen glätten, Engpässe über Grenzen hinweg ausgleichen und regionale Synergien effizienter nutzen.
Das Merit-Order-System in seiner jetzigen Form ist ein fossiles Perpetuum Mobile. Es befördert die Gewinne derer, die uns in die Klimakrise geführt haben, und bremst die Energiewende aus. Wir brauchen einen Systemwechsel, der die wahren Kosten der fossilen Energieträger widerspiegelt und die Vorteile der Erneuerbaren voll ausschöpft. Nur so können wir die Energiewende beschleunigen und unsere Klimaziele erreichen.
Quellen:
https://hans-josef-fell.de/2025/03/28/die-merit-order-das-verkorkste-energiesystem-in-deutschland/
https://www.saurugg.net/das-europaeische-stromversorgungssystem/die-komplexitaet-des-strommarktes-verstehen
https://netzero-events.com/merit-order-effects-from-large-scale-renewable-deployment/
https://www.epexspot.com/en/news/epex-spot-prepares-implementation-european-electricity-market-design-reform
https://www.irena.org/-/media/Files/IRENA/Agency/Publication/2017/May/IRENA_Adapting_Market_Design_VRE_2017.pdf
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